Der winzige Laden in der Freiburger Innenstadt fällt auf. Das liegt weniger am ungewöhnlichen Namen auf dem Ladenschild – Craftbeer Lodge – als vielmehr an der Auslage im einzigen Ladenfenster. Hier stapeln sich die Bierflaschen in unterschiedlichsten Formen, Größen und Farben. Drinnen steht hinter dem kleinen Verkaufstresen die blondgelockte Inhaberin, Andrea Seeger. Sie hat sich mit der Craftbeer Lodge einen Traum und neuen Lebensentwurf erfüllt. Wie und warum die eigentliche IT-Expertin und studierte Medieninformatikerin zum eigenen Craft Bier-Laden und eigener Biermarke kam, darüber haben wir mit ihr bei einem Alkoholfreien gesprochen.
Andrea macht es sichtlich großen Spaß, ihrer Kundschaft jede auch noch so kleine Frage zu den verschiedenen Bieren, die in ihrem Laden erstanden werden können, zu beantworten. Ein Bier mit besonderer Geschmacksnote gefällig, etwa nach Schokolade oder tropischen Früchten? Kein Problem, das ist schnell aus den Regalen gefischt. Oder eine Bierspezialität aus einer bestimmten Region? Kein Thema, auch das findet sich sofort. Andrea führt durch den Laden, erklärt die Besonderheiten dieses und jenes Bierstils und empfiehlt dabei auch gleich noch ähnliche Biere und Kombinationsmöglichkeiten. Hier ist eine Expertin am Werk, und man könnte meinen, Andrea habe in ihrem Leben noch nie etwas anderes gemacht, als hier in Freiburg Bierspezialitäten zu verkaufen.
Von der Medieninformatik zum Bier
Dass das nicht ganz sein kann, merkt man schon am leichten, nicht gerade badischen Akzent, der manchmal durchklingt. Andrea stammt ursprünglich aus dem Allgäu. Nach der Schulzeit wollte Andrea raus „in die große weite Welt“. Doch es kam anders; ein Umstand, der sich auf ihrem Lebensweg noch öfter wiederholen wird. Die berufliche Karriere von Andrea begann in ihrer neuen Heimat Freiburg mit einem Studium in Furtwangen. Medieninformatik, ein Studiengang, der zu der Zeit dort erst im zweiten Jahr angeboten wurde. „Mitte der 90er-Jahre gab es noch kein World Wide Web. Medieninformatik war also zu der Zeit die digitale Verarbeitung aller Medien.“ Und schon kurz nach dem Studium bewies Andrea wieder Pioniergeist. Sie wurde eine der Gründerinnen der Oxid eSales AG, einem heute in Deutschland führenden Anbieter von E-Commerce-Lösungen im Onlinehandel. Andrea war Marketingleitung und Vorstand, übernahm ganz am Anfang das Produktmanagement und arbeitete am Userinterface, alles in Personalunion. „Wir haben Kathedralen gebaut, die man nicht sehen konnte. Deinen Eltern erzählst du, du machst `was mit Internet`“, erzählt Andrea lachend.
Aufs Bier gebracht hat sie erst ein Business Event von PayPal. „Dort hatte ich meine erste Bierverkostung“, erinnert sich Andrea. „Und da saß ich dann und mir fiel die Kinnlade herunter.“ Andrea nimmt sich ein Sabbatical und vertieft sich in die Bierwelt. „An einem Wochenendseminar bin ich in ein Trainingscamp einer Biersommelier Masterclass gestolpert, die gerade für die Weltmeisterschaft in Brasilien trainiert haben. Und da war ich so begeistert, mit welcher analytisch-wissenschaftlichen Herangehensweise zum Beispiel ein Michael Zepf sich mit dem Thema Bier beschäftigt.“
Erst ringt sie noch mit sich, doch dann meldet sich die IT-Spezialistin zur Biersommelier-Ausbildung an. „Dass ich heute hier in meinem Laden stehe, ist dann einfach so passiert“, lacht Andrea. In Wirklichkeit klingt der Weg zum eigenen Ladengeschäft dann doch viel zielstrebiger.
Wechsel der Perspektive: Vom Onlinehandel zum direkten Kundenkontakt
„Es war mein Wunsch, den Leuten zu zeigen, wie vielfältig Biere sein können. Und dann habe ich mit der Freiburger Messe an der Plaza Culinaria die Craftbeer Area initiiert.“ Zwei Wochen später hat sie den Zuschlag für einen Pop-up-Store in der Freiburger Innenstadt in der Tasche. Zwischen Vertragsunterzeichnung und Eröffnung verging nur eine Woche. Es war Anfang Dezember und das Konzept kam bei der Kundschaft super an. So super, dass sich Andrea dachte: „Das mach ich weiter!“
Den Perspektivenwechsel vom Onlinehandel hin zum direkten Kundenkontakt im Einzelhandel findet sie sehr spannend. Angesichts der Ausgangsbeschränkungen 2020 kommt ihr die Erfahrung im Onlinehandel wieder zugute. Denn das analoge Medium Bier findet nicht mehr nur in Andreas Laden statt, sondern auch bei Cyber-Tastings und auch im Onlineshop der Craftbeer Lodge unter www.beer-lodge.com.
Wieder ändern sich die Rahmenbedingungen und Andrea muss wieder ihren Pioniergeist beweisen. „Das hört sich vielleicht etwas vermessen an, wenn ich mich selbst eine Visionärin und Trendsetterin nenne. Aber so wie ich damals mit dem Studium der Medieninformatik und dem Einstieg in den E-Commerce eine der Ersten war, war es auch bei Craftbeer genau der richtige Zeitpunkt, als ich 2015 die Ausbildung zur Biersommelière gemacht habe.“ Und das zeigt sich auch im Corona-Jahr 2020: „Die ersten Cyber Tastings haben wir 2020 bereits im März bekanntgegeben. Und der Dezember 2020 stand voll im Zeichen virtueller Weihnachtsfeiern.“
Folgerichtig: Die eigene Biermarke
Die neueste Errungenschaft in Andreas Portfolio ist die eigene Biermarke. Seit gut zwei Jahren nimmt das Projekt einen großen Teil ihrer Zeit in Anspruch. „Es ist eine erfüllende kreative Arbeit, ein Produkt zu entwickeln und alle Aspekte, die dazugehören, zu berücksichtigen.“ Den Wunsch nach der eigenen Biermarke hatte Andrea schon seit der Ausbildung zur Biersommelière 2015, in der sie beim Braupraktikum die Rolle der Braumeisterin einnehmen durfte. Danach hat sie ihre Kenntnisse zu Hause auf der kleinen 30-Liter-Brauanlage vertieft, bis sie dann als Gypsy-Brauerin in der Bräunlinger Löwenbrauerei das erste eigene IPA im großen Stil auf der 30-hl-Anlage eingebraut hat. Inzwischen umfasst die Produktlinie der Beer Lodge Marke vier Bierstile (Weißbier, Helles, Pils, IPA) und weitere sind in Entwicklung. „Ich profitiere dabei enorm von der Nähe zu den Kunden und habe beispielsweise mit meinem ersten IPA ein `easy to drink` IPA entwickelt, das Einsteiger abholt, aber auch den Nerds gut schmeckt.“
Stellt sich die Frage: Warum heißt die Biermarke und Website „Beer Lodge" und nicht „Craftbeer Lodge"? Andrea sieht das so: „Meine Mission ist es, den Kunden und Interessierten die Vielfalt der Bierstile und internationalen Bierkulturen zugänglich zu machen. Auch Bierstile anzubieten, die in den letzten Jahrzehnten teilweise wegrationalisiert wurden oder in Vergessenheit geraten sind. Der Begriff „Craft Bier“ scheint mir in Deutschland in eine Art „Hipster-Ecke" gedrängt zu sein, mit der anscheinend einige Bier-Liebhaber fremdeln.“
Grundpfeiler Unabhängigkeit und Natürlichkeit
Andrea ist für ihr Bier auf eine Bezeichnung gestoßen, die v.a. in Australien sehr bekannt ist: „Indie-Bier“. „Für mich ein sehr treffender Begriff für diese Biere, da das Kriterium der Unabhängigkeit für mich das wichtigste Kriterium der Definition von Craft Bier bedeutet.“ Außerdem ist Andrea großer Fan der Idee des „Natürlichkeits-Gebotes“ als Erweiterung zum Reinheitsgebot. Hinter dem „Natürlichkeits-Gebot steckt eine Positiv-Liste an weiteren natürlichen Zutaten, welche zum Brauen verwendet werden können und lediglich durch Deklaration in der Zutatenliste angezeigt werden müssen. „Im Gespräch mit Kunden leisten wir täglich Aufklärungsarbeit zur Bedeutung und der Vielfalt der Bierstile und Bierkulturen. Ja, wir dürfen uns über eine wunderbare Bierkultur und hohe Brauereidichte auch inhabergeführter Brauereien freuen; was aber die Vielfalt der Bierstile angeht, ist Deutschland aus meiner Perspektive tatsächlich noch Entwicklungsland“, sagt Andrea.
Die Branche selbst hat sich inzwischen für Andrea etwas entzaubert. „Es ist eine harte Branche, die meisten kleineren Unternehmen sind derzeit am Kämpfen.“ Andrea beobachtet, dass derzeit viele Biershops und Brauereien, die seit Jahren die Craft Bier-Bewegung geprägt haben, die Tore wieder schließen müssen. Und auch für sich selbst stellt sie fest: „Man muss schon aufpassen, dass man nicht in eine Art `Selbstausbeutung` schlittert. Und umso wichtiger ist es, mit Freude dabei zu sein und für sich eine Erfüllung zu finden.“
Andrea findet diese Erfüllung noch immer in der Kundenberatung und bei Tastings: „Wenn ich nach einem Event Applaus erhalte und sich die Teilnehmer mit leuchtenden Augen bedanken, weil sie eine Horizonterweiterung in Sachen Bier erfahren haben. Das Thema Bier ist sehr breit und komplex, daher wird es immer beratungsintensiv bleiben.“ Dabei hat Andrea inzwischen Unterstützung durch Mitarbeiter – und kann sich mehr ihrem Lieblingsthema widmen: der Entwicklung neuer Biere.