Die Geschichte des städtischen Ziegenbocks spielte sich im zweiten Quartal des 20. Jahrhunderts ab; kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, in dem kleinen, gemütlichen Stadtteil Niederlahnstein, welches gemeinsam mit Oberlahnstein die Stadt Lahnstein bildete. Sie liegt nahe Koblenz im Rheinland. Was sich damals gegen Mitte des Jahres ereignete, ließ die Niederlahnsteiner ohne Ausnahme Spott ernten von jedem, der davon hörte. Zurecht, denn die Geschehnisse stellten die Kompetenz einer ganzen Stadt infrage.
Der erste Versuch
Es begann damit, dass der städtische Ziegenbock im Sommer des Jahres 1932 verstarb. Zügig beschloss der Stadtrat als Alternative einen neuen Bock für die Ziegenherde anzuschaffen. Nach Verhandlungen mit den Bauern aus Dachsenhausen trug man einigen Mitgliedern aus dem Niederlahnsteiner Stadtrat auf, das Tier auf eigene Faust bei den Dachsenhausenern abzuholen – vor allem, um sich einige Kosten zu ersparen. So machten sich schließlich drei Herren des Stadtrates auf den Weg, mitsamt Pferdefuhrwerk und 100 Mark aus der Stadtkasse – für damals eine hohe Summe.
Da es ein heißer Sommertag im August 1932 war, führte der Weg der drei Herren, nachdem sie am Ziel angelangt waren, erst einmal ins Gasthaus. Die Hitze musste wohl unerträglich gewesen sein, denn die Beauftragten aus dem Stadtrat beschlossen vorerst nichts zu unternehmen und sich ein wenig zu entspannen. So wurde aus einem Bier schnell zwei, aus zwei bald drei, und das ging dann immer so weiter. Sofort sprach sich in ganz Dachsenhausen herum, dass im Wirtshaus drei Menschen säßen, die großzügig für jeden spendierten. Der ursprüngliche Plan der drei Herren war vergessen. Ehe sie sich's versahen, gaben sie das gesamte Geld der Stadtkasse aus und kehrten erst am frühen Morgen wieder nach Niederlahnstein zurück, selbstverständlich ohne Ziegenbock. Selbst auf dem Nachhauseweg waren sie noch angetrunken, sodass das Pferd allein den Weg fand.
Die gezwungene Lüge
Als den Beauftragten des Stadtrates erstmals wirklich bewusst wurde, was geschehen war, überkam sie die Verzweiflung. Dem guten Bürgermeister Rustenbeck erzählte man die Lüge, dass der Ziegenbock nachts in der Nähe von Braubach plötzlich aus dem Wagen gesprungen sei. Ehe sie ihn hätten verfolgen können, floh er bereits in den nächstbesten Wald.
Die Lüge wurde schnell durchschaut – Rustenbeck erfuhr bereits nach einem Anruf, dass der Bock immer noch in seinem Stall beim Bauern in Dachsenhausen stand. Bis heute widersprechen sich hier die Quellen, ob der Bürgermeister entweder vor Wut tobte oder sich in Wirklichkeit herzlich darüber amüsierte. Jedenfalls vertuschte man den Vorfall so gut es ging vor der Öffentlichkeit und schickte sofort drei neue Mitglieder nach Dachsenhausen. Eine von ihnen war eine Frau – so hoffte man, dass dadurch der Handel etwas gesitteter als beim letzten Mal ablaufen würde.
Der zweite Versuch
Zuerst lief alles perfekt nach Plan. Der Ziegenbock wurde gekauft, bezahlt und man begab sich sofort auf die Heimreise, um der Bierfalle zu entgehen, in welche ihre Vorgänger getappt waren. Leider war es wieder in diesem August ein ungewöhnlich heißer Tag. So kamen die Reisenden nach Braubach, und ihr Pferd benötigte dringend Wasser. Kein Wunder, schleppte man Wagen, Ziegenbock und eine Abgeordnete mit sich, wurde man selbst als Kutschpferd schnell müde. Also beschloss man ein kurze Rast einzulegen, immerhin hatten sie den Bock ja bereits bezahlt. Das angenehm kühle, verführerische Bier ließ die kurze Rast bald zu einer stundenlangen Pause bis zum Abend werden. Zwar verließen die drei Abgeordneten der Stadt das Wirtshaus noch einigermaßen nüchtern genug für die Heimreise, doch fanden sie beim Fuhrwerk im Hof den Ziegenbock nicht mehr. Sowohl das Pferd als auch der Wagen standen dort unberührt, nur vom Bock fehlte jegliche Spur.
Das Schicksal des Ziegenbocks
Nach einer eiligen Suche informierte man die Stadtpolizei, welche nach kurzer Zeit herausfand, dass noch vor kurzem ein Mann schnellen Schrittes mit einer Ziege durch das Stadtinnere in Richtung Rhein geeilt sei. Man folgte den Spuren und machte schließlich eine abscheuliche Entdeckung am Rheinufer. Dem potentiellen Ziegenvater mit aussichtsreicher Zukunft wurde höchstwahrscheinlich ein jähes Ende gesetzt. Man fand nämlich nur wenige, einzelne Überbleibsel im Rheinkies verstreut, in Form von Haaren und Blutspuren.
Wieder in Niederlahnstein angekommen, versuchte man die Geschehnisse ein weiteres Mal so gut es ging zu vertuschen – schließlich hatte man es gleich zweimal nicht geschafft, den Ziegenbock nach Niederlahnstein zu bringen. Und dieses mal konnte man ihn leider auch nicht mehr zurückbringen. Das Vertuschen funktionierte zuerst gut, doch die Geschichte war noch nicht zu Ende, und das Bier hatte immer noch seine Finger im Spiel.
Showtime
Monate vergingen und die Fastnachtssaison 1933 kam. Dort ließ sich, auch dank der berauschenden Wirkung des Bieres, die Geschichte nicht mehr verheimlichen. Die Erzählung über den neuen Niederlahnsteiner Steinbock, welcher nie Niederlahnstein erreichte, wurde dort in aller Öffentlichkeit verbreitet und sich nach Strich und Faden darüber lustig gemacht. Natürlich sprach sich dies in Windeseile herum, der Niederlahnsteiner Stadtrat wurde zum Narr aller umliegenden Nachbarstädte. Viele Bürgermeister boten dem Rat spaßeshalber einen Ziegenbock zum Verkauf an. Fortan wurde Rustenbeck sogar fast nur noch Ziegenbeck genannt.
Quelle
- Hahn, F.: Lahnsteiner Volkssagen, Imprimatur Verlag, 2011.