Seit dem 22. Dezember 1981 gilt bei Bier die Verpflichtung des Aufdruckes eines Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD). Laut der Verbraucherzentrale ist die Definition des MHD folgende: „Das MHD gibt den Zeitpunkt an, bis zu dem der Hersteller garantiert, dass das ungeöffnete Lebensmittel bei durchgehend richtiger Lagerung seine spezifischen Eigenschaften, wie Geruch, Geschmack und Nährwert behält.“ Dr. Michael Zepf von der Doemens Akademie geht in dieser zweiteiligen Serie darauf ein, inwieweit diese Definition bei Bier wirklich erfüllt wird und welche Auswirkungen die Nicht-Einhaltung dieser Definition auf den Biermarkt in den letzten vier Jahrzehnten hatte.
Die meisten Biertrinker haben heutzutage wenig Wissen über die Zusammenhänge zwischen dem MHD und der Qualität des Bieres. Die Informationen, die die Verbraucher bekommen, unterstützen eher noch die Desinformation und Irreführung. So erscheint etwa bei einer Google-Suche nach „MHD Bier“ (abgerufen im Oktober 2022) folgende Information an erster Stelle: „… Aber gerade bei Bier müssen wir dem Ablaufdatum keine allzu große Bedeutung beimessen. Denn es kann tatsächlich gar nicht schlecht werden. Deswegen kann auch nichts passieren, wenn wir ein abgelaufenes Bier trinken.“
Ganz anders geschieht dies bei anderen Lebensmitteln mit MHD. So erhält der Verbraucher z. B. bei einer Google-Suche nach „MHD Kartoffelchips“ folgende Information: „Das Fett in den Chips kann schnell ranzig werden. Lagern Sie Kartoffelchips deshalb möglichst nicht bis zum Ende des Mindesthaltbarkeitsdatums, sondern kaufen Sie sie besser nur nach Bedarf.“
In einem Fazit aus einem Test 50 verschiedener Pilsbiere im Mai 2022 gibt „Öko-Test“ folgenden Rat: „Achten Sie auf das Mindesthaltbarkeitsdatum. Ein Bier, das noch lange haltbar ist, besitzt wahrscheinlich weniger geschmackliche Mängel.“ Damit wird indirekt und fälschlicherweise auf eine noch weitere Ausdehnung der MHD-Fristen bei Bier gedrängt, weil die Zusammenhänge nicht verstanden sind.
Stabilität des Bieres
Wenn wir von Stabilität des Bieres sprechen, beziehen wir uns auf vier unterschiedliche Aspekte der Stabilität:
- Mikrobiologische Stabilität;
- Schaumstabilität;
- kolloidale Stabilität;
- Geschmacksstabilität oder besser: Flavour-Stabilität.
Die ersten drei Stabilitäten haben die Brauereien durch geeignete Brautechnologie und geeignete Analysemöglichkeiten sehr gut im Griff. Ganz anders hingegen sieht es mit der sogenannten Geschmacksstabilität aus. Hier liegt bereits ein Übersetzungsfehler vor, aufgrund des fehlenden deutschen Wortes für Flavour. Denn die möglichen sensorischen Veränderungen während des MHD gehen weit über den Geschmack hinaus und beziehen sich ebenso auf den Geruch und das Mundgefühl, wie Abbildung 1 zeigt.
Die Veränderungen des Flavours beim Altern des abgefüllten Bieres sind bereits vor Einführung des MHD durch C. E. Dalgliesh 1977 auf dem EBC-Kongress eindeutig dargelegt worden: „Bier-Flavour ist nie stabil. Jeder von uns beginnt von Geburt an zu altern, und dasselbe gilt für das Flavour jedes Tropfen Bieres, das jemals gebraut wurde. Das Flavour von Bier ist dynamisch, nicht statisch.“ Am Prinzip dieser Aussage hat sich trotz aller brautechnologischen und technischen Errungenschaften der letzten vier Jahrzehnte nichts geändert.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die chemischen Veränderungen und die Reaktionsmechanismen während der Lagerung von Bier sind mittlerweile umfassend und eindeutig verstanden. So wissen wir sowohl, wie typische Alterungsparameter entstehen und welche Geschmacksschwellen sie haben, als auch wie wir sie analysieren können.
Die Veränderungen des Flavours sind sowohl abhängig vom jeweiligen Biertypus, dem im Bier vorhandenen antioxidativen Potenzial sowie den klassischen Alterungsparametern. Abbildung 2 gibt Aufschluss über diese Zusammenhänge.
Unterschiedliche Auswirkungen der Bieralterung
Das Problem besteht einerseits darin, dass die Brauerei nicht auf alle Einflussgrößen der Bieralterung einwirken kann, sowie in der Tatsache, dass die Auswirkungen der Alterung auf das Flavour und damit die Qualität sehr stark vom Bierstil abhängig sind. Abbildung 3 gibt Auskunft über die tendenzielle Alterungsstabilität einzelner Bierstile. Auf den ersten Blick zeigt die Abbildung mit den vielen grünen Pfeilen ein durchaus positives Bild, aber bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die mit Abstand beliebtesten und damit meistgetrunkenen Bierstile eine negative Auswirkung der Alterung zeigen. Die hierfür sehr anfälligen hellen, filtrierten Lagerbiere sowie die hopfenbetonten Pale Ales und IPAs machen zusammen weltweit ca. 95 Prozent des gesamten Bierkonsums aus.
Die enorme Anfälligkeit für Alterung bei typischen Lagerbierstilen ist hinlänglich bekannt, soll aber noch einmal exemplarisch an einer bewertenden Verkostung durch das erfahrene Doemens-Verkoster-Panel aufgezeigt werden. Es wurden Münchner Hell-Biere von acht unterschiedlichen Brauereien mit jeweils drei unterschiedlichen Abfüllzeitpunkten blind nach dem Doemens-20-Punkte-Schema verkostetet. Zur Einordnung der Ergebnisse hier die Richtwerte der Punkte nach dem 20-Punkte-Schema:
- < 10 Punkte: fehlerhaft;
- 10–12 Punkte: nicht wirklich zufriedenstellend;
- 12–14 Punkte: zufriedenstellend bis gut;
- 14–16 Punkte: gute bis sehr gute Qualität;
- 16–18 Punkte: ausgezeichnet bis herausragend;
- 18–20 Punkte: absolute Spitzenqualität, die Maßstäbe setzt.
In Abbildung 4 wird ersichtlich, dass die qualitativen Unterschiede innerhalb der Biere einer Brauerei aufgrund der Alterung zum Teil erheblich größer sind als die Unterschiede der Biere zwischen den Brauereien. Außerdem fällt auf, dass alle Top-Platzierungen (über 16 Punkte) ausschließlich von frischeren Proben erreicht wurden (rot umrandet).
Im zweiten Teil des Beitrags geht Dr. Zepf darauf ein, was sich seit Einführung des MHD geändert hat und entwickelt verschiedene Auswege aus dem MHD-Dilemma.